Die Bibel verstehen

Die Bibelexegese (Auslegung biblischer Texte, Herausfinden der Bedeutung biblischer Texte) unterliegt einem ständigen Wandel. Zu diesem Wandel haben auch andere Wissenschaften beigetragen (z. B. die Semiotik, die untersucht, wie Wörter ihre Bedeutung bekommen). Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass ein biblischer Text eine Bedeutung hat, die von ExpertInnen herausgefunden werden kann. Die Hürde dafür wurde darin gesehen, dass biblische Texte aus einer fremden, lange vergangenen Welt stammen.

Historisch-kritische Exegese : Textproduktion -> Text

In den ersten drei Quartalen des 20. Jahrhunderts waren die Forscher vor allem daran interessiert, welche Intention biblische Autoren hatten (Warum des Textes), und an den Umständen, unter denen die Texte entstanden (Geschichte, Schritte der Textentstehung). Davon versprachen sie sich, den ursprünglichen Sinn des Textes herauszufinden. Dazu wurden Wissenschaften wie Religionsgeschichte, Profangeschichte und Sozialgeschichte herangezogen.

Im Einzelnen erfolgte die historisch-kritischen Exegese in folgenden Schritten:

Textkritik

Der ursprüngliche Text der Bibel liegt uns nicht vor. Wir haben es mit verschiedenen Manuskripten zu tun, die sich unterscheiden. Die Textkritik versucht den ursprünglichen, richtigen Text herauszufinden.

Literarkritik

In vielen biblischen Texten ist die Einheitlichkeit gestört. Es gibt inhaltliche Spannungen und Widersprüche, Verdoppelungen des Inhalt im gleichen Abschnitt, Mehrfachüberlieferungen in unterschiedlichen Texten, unvorhergesehene Unterbrechungen in Erzählungen, Änderungen in der Sprache (z. B. unterschiedliche Gottesnamen) u. a. Das sind Hinweise darauf, dass biblische Texte nicht von einem einzelnen Autor in einem Guss geschrieben wurden, sondern im Laufe einer Entstehungsgeschichte von verschiedenen Autoren ergänzt und bearbeitet wurden. Die Literarkritik versucht, den Weg von der Erstverschriftung bis zur Kanonisierung (Aufnahme eines biblischen Buches in die Bibel, Ende der Veränderungen) herauszufinden.

Überlieferungskritik/Überlieferungsgeschichte

Diese widmet sich der mündlichen Überlieferung von Texten vor der Erstverschriftlichung. Die mündliche Überlieferung ist die Grundlage für Mehrfachüberlieferungen.

Redaktionskritik/Redaktionsgeschichte

Die Redaktionskritik spürt nach, wie Texte miteinander kombiniert und ergänzt wurden und welche Intention die Redakteure verfolgten. Redaktionelle Arbeit stellt Texte in neue Zusammenhänge und kann damit auch ihre Bedeutung verändern.

Formkritik/Formgeschichte

Die Formkritik widmet sich der sprachlichen Gestaltung von Texten und weist auf unterschiedliche literarische Gattungen hin (z. B. Loblied, Totenklage, Gleichnis, Wundererzählung). Eine Gattung hat einen “Sitz im Leben”. Dieser wird wird bestimmt durch: Wer redet? Wer sind die Zuhörer? Was ist die Situation, die Stimmung? Welche Wirkung wird angestrebt? Die Frage nach der Wahrheit/Bedeutung eines Textes hängt stark von der Gattung ab.

Traditionskritik/Traditionsgeschichte

Die Traditionskritik befasst sich mit der geistigen Umwelt, in der ein Text entstanden ist: Greift der Text eine Vorstellung aus der Umwelt auf? Warum wird eine Vorstellung in den Text aufgenommen (Intention)? Geht der Text über Umweltvorstellungen hinaus?

Historischer Ort

Der historische Ort umfasst das Entstehungsdatum eines Textes sowie geistig-religiöse, politische, militärische und wirtschaftliche Umstände.

Strukturalistische Exegese: der Text und seine Bedeutung(en)

Mit der Zeit verlagert sich im 20. Jahrhundert das Interesse der Forschung von den historisierenden Fragen zum Text als selbstständige Größe. Man untersucht die Strukturen des vorliegenden Textes und sucht nach der Bedeutung der einzelnen Teile und des Ganzen.

Rezeptionsästhetische und postmoderne Exegese: Text -> Bedeutungen -> LeserInnen

Die strukturalistische Exegese wurde durch Erkenntnissse der Semiotik in Frage gestellt. Die Semiotik untersucht, wie Text und Sprache ihre Bedeutung bekommen, und fand heraus, dass Texte nicht einfach eine Bedeutung haben, weil auch die LeserInnen einen Anteil an der Bedeutungsgebung haben. Über das Ausmaß dieses Anteils herrschen unterschiedliche Auffassungen. Die radikale Auffassung behauptet, dass der Autor keinerlei Bedeutung festlegt. Seit etwa 1985 wirkte sich die rezeptionsästhetische Auffassung auf die Bibelwissenschaft aus.

Die heutige Bibelwissenschaft versucht den Text in seiner vorliegenden Gestalt zu würdigen (strukturalistische Exegese), berücksichtigt aber auch rezeptionsästhetische Überlegungen. Man ist sich bewusst, dass zum Verständnis der Bibel unterschiedliche Zugänge notwendig sind.

Integrationsmodell einer doppelt-kontextuellen Bibelinterpretation

Wenn Menschen biblische Texte lesen, treffen LeserInnen aus einer bestimmten Lebenswelt und mit einer bestimmten Verstehenswelt auf einen Text aus einer anderen Welt. Die LeserInnen sind nicht nur einfach aktiv an der Sinngebung beteiligt. Sie beginnen durch das Lesen der Bibel einen Kommunikationsprozess (daher beginnt der Pfeil von rechts). Sie bringen beim Lesen ihre schon vorhandenen Sichtweisen und Interessen ein. Diese hängen von ihren Lebensumständen ab (soziale, wirtschaftliche, kulturelle). Dazu kann auch schon eine Auslegungstradition gehören (z. B. durch die Glaubensgemeinschaft vermittelt).

Dieses Faktoren führen dazu, dass die LeserInnen ihr Interesse auf bestimmte Aspekte des Textes richten. Wenn sie sich jedoch bemühen, den Text in seinem Kontext (Textkontext) zu sehen, können sie neue Einsichten gewinnen. Wissen aus dem Textkontext verändert bei den LeserInnen das Verständnis. So kann eine Spirale der Interpretation zustande kommen. Ein vereinfachtes Verständnis oder sogar eine Vereinname des Textes kann vermieden werden.

So sollten folgende Faktoren beachtet werden:

  • der unmittelbare Erzählzusammenhang
  • der größere Zusammenhang (etwas zu den Schriften eines Autors)
  • religiöse, geschichtliche, soziale, politische, wirtschaftliche, psychologische Zusammenhänge
  • Interpretationen in der Geschichte
  • gegenwärtige Interpretationen (z. B. in Afrika, Lateinamerika)

Die Berücksichtigung der vielen Faktoren verhindert vorschnelle Festlegungen und motiviert zum Weiterfragen.

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